Die Schreckensmeldung stand zuerst in den „Salzburger Nachrichten“:
„Erste kulturbolschewistische Atombombe auf Österreich abgeworfen.“ Das rechtsgerichtete Kampfblatt „Die Neue Front“ stellte die kryptische Frage: „Wer schmuggelte das Kommunistenpferd in das deutsche Rom?“ Das „Linzer Volksblatt“ schien die Antwort zu kennen und erweckte mit der Formulierung: „Er dürfte ein gefährlicher Agent sein! Und den lassen wir herein!“ bei seinen Lesern den Eindruck, als hätte in Österreich gerade ein Top-Spion eine neue Operationsbasis errichtet.
In anderen Blättern war noch die Rede vom „Poeten des Teufels“, von einer „literarischen Ausgeburt“ und vom „größten Kulturskandal der Zweiten Republik“.
Den Anlass für diese Pamphlete, die Ende 1951 in österreichischen Zeitungen erschienen, bildete ein Dokument, das bereits am 12. April 1950 von der Salzburger Landesregierung ausgestellt worden war, nämlich die „Urkunde über die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Herrn Berthold Brecht, Beruf: Schriftsteller, geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg“. Monatelang stand die durch diese Urkunde ausgelöste „Affäre Brecht“ im Mittelpunkt des medialen Interesses und beschäftigte in weiterer Folge nicht nur den Salzburger Landtag, sondern auch den österreichischen Nationalrat und den Ministerrat.
Im Zuge dieser Auseinandersetzungen verwandelten sich die Federn zahlreicher Journalisten in Schwerter, um den Kampf gegen das Böse schlechthin wirkungsvoller führen zu können. Dieses Böse, das nicht mehr nur wie ein Gespenst in Europa umging, war der Kommunismus, der in der Person des Schriftstellers Bertolt Brecht die Republik Österreich unterwandern und reif für den Untergang machen sollte.
Der Chefredakteur der „Neuen Front“, Viktor Reimann, machte am 13. Oktober 1951 klar, worum es in Wirklichkeit ging. Er schrieb: „Die Einbürgerung Bert Brechts zeigt, wie durch den Übereifer einzelner intellektueller Sozialisten und durch die Unwissenheit und Schwäche der kulturellen Machthaber der Volkspartei unser Land kommunistisch unterminiert wird und die Amerikaner die geistige Bolschewisierung Österreichs noch finanzieren.“
Wenn man angesichts solcher Formulierungen heute ungläubig den Kopf schüttelt, sollte man nicht vergessen, dass zu Beginn der fünfziger Jahre der Kalte Krieg längst in vollem Gange war, was natürlich auch Auswirkungen auf das kulturelle Leben in Österreich hatte.
So ging es im Falle Brechts ja nicht nur um die Denunzierung eines linken Schriftstellers, sondern auch um die Abrechnung mit einer Kunstauffassung, die im konservativen und stramm antikommunistischen Österreich keinen Platz hatte. Und Brecht gehörte bekanntlich zu denen, die – wie es Thomas Mann bereits 1944 formulierte – im „Antikommunismus die Grundtorheit unserer Epoche“ sahen.
Die Gedankengänge derer, die damals im österreichischen Kulturbetrieb das Sagen hatten, sind heute in vielen Fällen schwer nachvollziehbar. So fasste der Schriftsteller Friedrich Torberg, einer der größten Brecht-Hasser seiner Zeit, seine Haltung zu Brecht wie folgt zusammen:
„
- 1. Kunst hat mit Politik zu tun.
- 2. Bertolt Brecht ist ein Kommunist.
- 3. Der Kommunismus ist der unerbittliche Todfeind der Demokratie.“
Und weiter:
„Selbst ‚Hänschen klein‘ wäre, wenn Brecht als Verfasser zeichnet, kommunistische Propaganda.“
Diese Äußerungen wurden 1961 zu einem Zeitpunkt gemacht, als es in Österreich bereits einen seit acht Jahre fast lückenlos durchgehaltenen Brecht-Boykott gab. Natürlich ging es Torberg nicht alleine um die Diffamierung Brechts, sondern auch um die Diskreditierung all jener Künstlerinnen und Künstler, die im Verdacht standen, zu liberal zu sein oder zu weit links zu stehen. Erwähnt seien hier stellvertretend Torbergs Hetze gegen die „Drecksau“ und „Filzlaus“ Hilde Spiel, und seine teils offen, teils hinter den Kulissen geführten Attacken gegen Thomas Mann, Berthold Viertel oder Gottfried von Einem.
Torbergs Kampagnen endeten nicht selten in dem Versuch, den jeweiligen Gegnern ihre Existenzgrundlage zu entziehen. Als beispielsweise bekannt wurde, dass der Schauspieler Karl Paryla bei den Salzburger Festspielen im Sommer 1952 den Teufel im „Jedermann spielen sollte, setzte Torberg alles daran, dieses Engagement zu hintertreiben. Im „Wiener Kurier“ bezeichnete er das KPÖ-Mitglied Paryla als „bedingungslosen Partisanen einer Diktatur, deren brutaler Terror sich nicht nur auf die Gedanken erstreckt, sondern aufs nackte Leben“, und forderte dessen Entlassung.
Das Kuratorium der Salzburger Festspiele entsprach Torbergs Wunsch und „stornierte“, wie es in der offiziellen Sprachregelung hieß, am 3. Juli 1952 Parylas Engagement. In einer Feststellung der österreichischen Bundesregierung zum „Fall Paryla“ vom 29. August 1952 hieß es:
„Der Grund für die Stornierung des Engagements des demokratischen Schauspielers Paryla ist darin zu sehen, daß dieser in der Zeitschrift ‚Tagebuch‘ einen Artikel veröffentlicht hat, der die Bundesregierung und die Festspielstadt schwerstens beleidigt und geeignet ist, die österreichische Währung zu unterminieren. Paryla hat nicht den Anspruch, von dem, den er besudelt, angestellt zu werden.“
Das „Vergehen“ Parylas bestand darin, dass er sich ein Jahr zuvor, und zwar im Juli 1951, in der Zeitschrift „Tagebuch“ über die amerikanischen Besatzer, die Salzburger Festspiele und die Bundesregierung lustig gemacht hatte. Paryla schrieb zum Beispiel:
„Die Festspielstadt fragt mehr als grantig:
Seit wann liegt Salzburg am Atlantik?“
Als zehn Jahre nach seinem Rauswurf bei den Festspielen Karl Paryla aus der DDR nach Wien zurückkehrte und an das Theater in der Josefstadt engagiert wurde, schrieb Torberg: „Es genügt nicht, daß Karl Paryla hierzulande ungestört leben, kommunistisch wählen und sich kommunistisch betätigen darf – nein, man muß ihn auch noch engagieren.“
Und als der Schauspieler Otto Tausig nach seiner Rückkehr aus der DDR mit dem damaligen Direktor des Theaters in der Josefstadt, Franz Stoß, wegen eines Engagements verhandelte, hielt Stoß in der einen Hand den Vertrag und in der anderen eine „Reueerklärung“, die sich auf Tausigs Zeit an dem von der KPÖ und den sowjetischen Behörden unterstützten „Neuen Theater in der Scala“ bezog. Stoß zu Tausig: „Diese Erklärung ist nicht für mich, sondern für den Weigel und den Torberg.“
Dass Weigel und Torberg später versuchten, ihre Rolle in der Zeit des Kalten Krieges herunterzuspielen, versteht sich angesichts gewisser österreichischer Gesetzmäßigkeiten von selbst. Noch 1983 meinte Hans Weigel während einer Diskussionsveranstaltung in Wien, dass damals ja alles gar nicht so schlimm gewesen sei und man den Brecht- und „Scala“-Boykott vor dem Hintergrund des Kalten Krieges verstehen müsse. Darauf konterte Otto Tausig: „Ich habe diese Zeit nicht so harmlos empfunden, war ich doch zweimal im Exil, einmal unter Hitler und einmal unter Weigel und Torberg.“ Tausig spielte hier darauf an, dass nach der erzwungenen Schließung des „Neuen Theaters in der Scala“ im Juni 1956 ein Teil des Ensembles mangels Arbeitsmöglichkeiten in Österreich in die DDR emigrierte und dort am Deutschen Theater in Berlin eine neue künstlerische Heimat fand.
Torbergs Hass auf Bertolt Brecht hatte neben politischen aber sicherlich auch persönliche Gründe. Anders wäre es nicht zu erklären, dass er während seines Exils in Kalifornien als Informant für das FBI tätig war, und zu den von ihm bespitzelten Personen auch Bertolt Brecht gehörte. In einem Bericht vom 30. März 1943 an das FBI ging Torberg zum Beispiel ausführlich auf Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ ein und berichtete, dass „the subject“ ein kommunistischer Schriftsteller sei, der gemeinsam mit dem Kommunisten Hanns Eisler „Das Solidaritätslied“ geschrieben habe. Zwei Wochen nach Vorlage von Torbergs Bericht erwog das FBI, Brecht zu internieren, verwarf diesen Plan allerdings nach einer neuerlichen Prüfung des Falls wieder.
In seiner Funktion als Informant für das „Office of War Informations“ regte Torberg im Juni 1945 in New York auch an, „the communist political cells“ in Hollywood genauer unter die Lupe zu nehmen. Kurze Zeit später hat das berüchtigte „Committee On Unamerican Activities“ die angeblichen „kommunistischen Zellen“ in Hollywood ja dann tatsächlich unter die Lupe genommen und linke und liberale Künstler vor den „Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeiten“ gezerrt, vor dem am 30. Oktober 1947 auch Bertolt Brecht aussagen musste. Die Ankläger, unter denen sich der spätere US-Präsident Richard Nixon befand, stützten sich in ihrer Argumentation wesentlich auf die von Torberg gesammelten Informationen. Als sogenannter „freundlicher Informant“ im Sinne der Anklage fungierte damals übrigens der Schauspieler Ronald Reagan.
Nachdem Brecht keine kommunistischen Umtriebe nachgewiesen werden konnten, verließ er umgehend die USA und kehrte nach Europa zurück. Als er am 1. November 1947 auf dem Flughafen von Paris landete, waren er und seine Frau, die Schauspielerin Helene Weigel, immer noch staatenlos. Die nationalsozialistische Regierung hatte den beiden am 8. Juni 1935 die deutsche Staatsbürgerschaft „wegen Schädigung der deutschen Belange und Verstoßes gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk“ aberkannt. Nach fünfzehnjährigem Exil in Dänemark, Schweden, Finnland, der Sowjetunion und den USA ließ sich Brecht zunächst in der Schweiz nieder, um von dort aus die Lage zu sondieren. Für ihn als heimgekehrten Emigranten war die Lage allerdings kompliziert, weil sich die extrem ausländerfeindliche Politik der Schweizer Behörden vor allem gegen die aus dem Exil zurückgekehrten Staatenlosen richtete. So gesehen ist es nicht weiter verwunderlich, dass Brecht in vielen Briefen immer wieder auf die Schwierigkeiten verwies, die ihm wegen der fehlenden Papiere gemacht wurden. „Das anstrengende Geschäft der Exilierten: das Warten“, wie Brecht einmal schrieb, und die Bürokratie machten ihm das Leben schwer.
Bereits im finnischen Exil hatte sich Brecht in den „Flüchtlingsgesprächen“ mit der deprimierenden Lage der passlosen Emigranten auseinandergesetzt. Gleich zu Beginn dieses groß angelegten Dialogs zwischen dem Physiker Ziffel und dem Arbeiter Kalle kommt Letzterer auf die Bedeutung eines Passes zu sprechen:
„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen“, sagt Kalle. „Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“
Etwas später greift auch Ziffel dieses Thema auf: „Aber die Pässe gibts hauptsächlich wegen der Ordnung. Sie ist in solchen Zeiten absolut notwendig. Nehmen wir an, Sie und ich liefen herum ohne Bescheinigung, wer wir sind, so dass man uns nicht finden kann, wenn wir abgeschoben werden sollen, das wär keine Ordnung.“
Brecht und seine Familie mussten nun die bittere Erfahrung machen, dass sich für die passlosen Emigranten auch nach dem Krieg die Lage kaum gebessert hatte.
In dieser für ihn äußerst unangenehmen Situation lernte Brecht im Frühjahr 1948 in Zürich den jungen österreichischen Komponisten Gottfried von Einem kennen, der sich als Mitglied des Direktoriums der Salzburger Festspiele um eine geistige Neuorientierung der Festspiele bemühte. Den Kontakt hergestellt hatte Brechts langjähriger Freund und Bühnenbildner, Caspar Neher, der für Gottfried von Einems Oper „Dantons Tod“ bei den Salzburger Festspielen 1947 die Ausstattung gemacht hatte. Für Gottfried von Einem war bald klar, dass Brecht bei der Neugestaltung der Festspiele eine wichtige Rolle spielen sollte. In einem Gespräch, das der Journalist Hans Langwallner und ich im Jänner 1983 mit Gottfried von Einem führten, sagte dieser:
„Um Brecht an Salzburg zu binden, sah einer unserer Pläne vor, dass Berthold Viertel Intendant des Landestheaters werden sollte, Erich Engel Oberspielleiter und Brecht Dramaturg. Brecht war damit sehr einverstanden und machte gleich einige Vorschläge. Beispielsweise wollte er bei den Festspielen nicht nur den ‚Kaukasischen Kreidekreis‘, sondern auch den ‚Faust‘ inszenieren. Und zwar beide Teile an einem Abend. Den Faust sollte Fritz Kortner und den Mephisto Peter Lorre spielen.“
Aber solche Pläne waren undurchführbar, solange Brecht keine brauchbaren Papiere besaß. Von Einem versprach Brecht, sich in Salzburg und Wien bei einflussreichen Personen dafür einzusetzen, dass er Papiere zum Reisen bekäme, von einem Pass war damals übrigens noch nicht die Rede. Salzburgs Landeshauptmann, Josef Rehrl, der Präsident der Salzburger Festspiele, Heinrich Puthon, der Leiter der Bundestheaterverwaltung, Egon Hilbert, und andere maßgebliche Personen in Salzburg und Wien wurden in von Einems Pläne eingeweiht und unterstützen diese ausdrücklich. Das große Interesse, das man Brecht entgegenbrachte, ließ bei ihm erstmals auch die Überlegung aufkommen, sich „im Österreichischen, in der Salzburger Gegend, niederzulassen“, wie er in einem Brief an Ferdinand Reyher schrieb. Bevor Brecht aberf überhaupt nach Salzburg reisen konnte, sollte noch ein halbes Jahr vergehen, so lange dauerte die Abwicklung seiner Anträge.
Als Brecht schließlich im Oktober 1948 zum ersten Mal nach Salzburg kam, war sein Eindruck von der Stadt nicht gerade überwältigend. In sein „Arbeitsjournal“ notierte er: „hier gibt es alles, das heißt schwarz. man bezahlt mehr und braucht keine lebensmittelkarten. strenge demokratie für die mittellosen, das heißt arbeitenden, jeder bekommt gleich wenig. stadt wirkt ausgepowert, erschöpft.“
Nichtsdestotrotz führte Brecht mit verschiedenen Verantwortlichen der Festspiele Gespräche über mögliche Aufführungen seiner Stücke in Salzburg und Wien. Ein Anfang war gemacht und Brecht konnte beruhigt nach Berlin weiterreisen, um am Theater am Schiffbauerdamm die Inszenierung seines Stücks „Mutter Courage und ihre Kinder“ vorzubereiten.
Als sich Brecht im Frühjahr 1949 in Zürich aufhielt, bekam er erneut Probleme mit den Schweizer Behörden. In dieser Situation hatte Brecht erstmals die Idee, sich um einen österreichischen Pass zu bemühen. Er bot Gottfried von Einem an, für Salzburg ein Festspiel zu schreiben, wenn er dafür einen Pass bekäme. Brecht: „Ich weiß jetzt auch ein Äquivalent, mehr für mich wert als Vorschuss irgendwelcher Art; das wäre ein Asyl, also ein Paß. Wenn das überhaupt möglich wäre, so sollte es natürlich ohne jede Publizität gemacht werden.“
Gottfried von Einem war mit dem Handel sofort einverstanden und ebnete Brecht bei den zuständigen Behörden in Salzburg und Wien den Weg. In Briefen an Unterrichtsminister Felix Hurdes (ÖVP), Landeshauptmann Josef Rehrl (ÖVP) und Salzburgs Bürgermeister Anton Neumayr (SPÖ) begründete Brecht sein Ansuchen um die österreichische Staatsbürgerschaft damit, dass er „in einem Lande geistig arbeiten möchte, welches die entsprechende Atmosphäre dazu bietet“.
1983 erzählte Gottfried von Einem, dass diese Briefe in Wirklichkeit der Leiter der Bundestheaterverwaltung, Egon Hilbert, geschrieben habe, der in seiner Funktion als Direktoriumsmitglied der Festspiele ebenfalls an einer künstlerischen Neuorientierung interessiert war. Hilbert wollte Brecht auch als Regisseur für das Burgtheater gewinnen.
Ein Jahr lang dauerte der Aktenweg, der fünf verschiedene Ämter und Ministerien beschäftigte: Den Magistrat Salzburg, die Salzburger Landesregierung, das Unterrichtsministerium, das Innenministerium und den Ministerrat. Sämtliche dieser Institutionen stimmten Brechts Ansuchen zu, wobei die Gründe dafür von völliger Ahnungslosigkeit bis zur Hoffnung auf Deviseneinnahmen durch eine Zusammenarbeit Brechts mit österreichischen Theatern und Verlagen reichten.
In der Zwischenzeit hatte Brecht mit seiner Arbeit am Festspiel „Salzburger Totentanz“ begonnen, über das Gottfried von Einem berichtete: „Dieses Stück hätte, wie der ‚Jedermann‘, im Freien aufgeführt werden sollen, und zwar im Hof des Stifts St. Peter. Brecht wollte aber keine Guckkastenbühne haben, sondern das Publikum sollte in der Mitte sitzen. Die Schauspieler hätten dann den gesamten Hof als Spielfläche benutzt und die Leute wären auf Drehstühlen gesessen.“
Für die Besetzung notierte sich Brecht folgende Namen: Fritz Kortner (Der Kaiser), Peter Lorre (Der Tod), Therese Giehse (Die Kaiserin Mutter), Karl Paryla (Der Landsknecht), Helene Weigel (Seine Mutter) und Rudolf Forster (Der Dekan). Für die Ausstattung wäre natürlich Brechts langjähriger Bühnenbildner, Caspar Neher, verantwortlich gewesen.
Was freilich etwas verwundert, ist die Tatsache, dass Brecht offenbar nicht realisiert hatte, dass sich die Salzburger Festspiele in der Zwischenzeit künstlerisch längst in eine andere Richtung entwickelt hatten. Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler, Karl Böhm, Clemens Krauss oder Hans Knappertsbusch, allesamt während der Nazizeit in Salzburg tätig, waren längst wieder rehabilitiert worden, und mit Herbert von Karajan hatte im Sommer 1948 ein Dirigent die Salzburger Bühne betreten, der diese Institution vierzig Jahre lang entscheidend prägen sollte. Und Karajan war, wie Krauss oder Böhm, bekanntlich überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus gewesen.
Dass es zwischen der Weltanschauung dieser Leute und der Weltanschauung Brechts keine Gemeinsamkeiten geben konnte, versteht sich von selbst. Und wie unterschiedlich der Exilant Brecht und die „Daheimgebliebenen“ die Zeit des Nationalsozialismus einschätzten, geht aus einem Interview hervor, das Karl Böhm am 4. Februar 1979 dem „Kurier“ gab. In diesem Gespräch sagte Böhm: „Die anderen, die in die Emigration gegangen sind, hatten es ja eigentlich besser als ich, der ich zu Hause geblieben bin. Sie hatten keine Bombenangriffe zu überstehen; sie hatten Arbeit.“
Das sagte einer, der in Wien kurz nach der Okkupation Österreichs durch Hitlerdeutschland bei einem Konzert der Wiener Symphoniker das Publikum mit dem Hitlergruß begrüßte und am Beginn des Konzerts das Horst-Wessel-Lied spielen ließ.
Nichtsdestotrotz kam Brecht immer wieder nach Salzburg, wo er bei Gottfried von Einem am Mönchsberg 17 Quartier fand. Dort bildeten sich verschiedene Gesprächsrunden, an denen, laut Auskunft Gottfried von Einems, neben Brecht und dem Bühnenbildner Caspar Neher auch das Malerehepaar Agnes Muthspiel und Herbert Breiter teilnahm.
Für Brecht war die Lage aber immer noch kompliziert, da er als Staatenloser nach wie vor nur über provisorische Dokumente verfügte. Da die Grenze bei Freilassing nur mit speziellen Papieren passiert werden konnte, ließ Gottfried von Einem seine guten Kontakte zu Gale Hoffman, den Chef des US-Heeresgeheimdienstes in Salzburg, spielen. Gottfried von Einem erzählte, dass er in Freilassing über eine Anlaufstelle in der Person eines Lokomotivführers namens Fritz Föttinger verfügte, der in der Münchner Straße 22 seine Dienstwohnung hatte. Dort wurden zunächst jene Künstler aus Deutschland untergebracht, die man in Salzburg haben wollte, die aufgrund fehlender Papiere aber nicht nach Österreich einreisen konnten. Bei Föttinger fand auch Brecht im August 1949 Quartier. In dieser Wohnung wurden dann die gewünschten Personen vom amerikanischen Heeresgeheimdienst CIC verhaftet und nach Salzburg gebracht, von wo sie nach getaner Arbeit als unerwünschte Ausländer wieder abgeschoben wurden.
Wenn es besonders schnell gehen musste, wurde auch die Mutter von Einems eingeschaltet, die gute Beziehungen zu den Grenzbeamten hatte, und die die jeweiligen Personen kurzerhand im Fond ihres Wagens versteckte. Gottfried von Einem erzählte, dass auf diese Weise Boris Blacher, Carl Orff, Werner Egk und auch Bertolt Brecht von Freilassing nach Salzburg gebracht wurden.
Kompliziert waren aber nicht nur die Grenzübertritte, sondern auch die Kommunikationsmöglichkeiten, wie ein Brief Brechts an Caspar Neher belegt. Brecht schrieb: „Wenn du mir telegrafieren willst, von Salzburg aus, gehst du zu Frln. Erika Freitag im Geschäft Pfanzelter, Judengasse 3. Sie besorgt das Telegramm über Freilassing.“
Während Brecht also am „Salzburger Totentanz“ arbeitete, beschäftigten sich die zuständigen Behörden in Wien und Salzburg mit der „Akte Brecht“, und kamen einhellig zum Schluss, dass „die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Bertolt Brecht ein Gewinn für das kulturelle Leben Österreichs“ wäre. Am 12. April 1950 war es schließlich soweit und Brecht und seine Frau, Helene Weigel, erhielten die österreichische Staatsbürgerschaft.
Als eineinhalb Jahre später diese Verleihung in der Blütezeit des Kalten Krieges publik wurde, wollte natürlich keine der damit befassten Stellen irgendetwas damit zu tun gehabt haben. Der Magistrat Salzburg berief sich auf „die künstlerische Würdigung Bert Brechts im Großen Brockhaus“, das Unterrichtsministerium redete sich auf „das unaufhörliche Drängen“ der Salzburger Landesregierung aus, und Bundeskanzler Figl begründete die Zustimmung des Ministerrats damit, dass keine Behörde „Bedenken irgendwelcher Art“ geäußert hätte.
Brenzlig wurde die Sache allerdings für Josef Klaus, der seit 1. Dezember 1949 Salzburger Landeshauptmann war und als politisch Hauptverantwortlicher in dieser Angelegenheit ins Schussfeld der Kritik geriet. Im Zuge der Medienkampagnen weitete sich der „Fall Brecht“ mehr und mehr zu einer Groteske aus, da sich ÖVP und SPÖ gegenseitig die Schuld zuschoben, obwohl beide Parteien zu gleichen Teilen in die Sache involviert waren.
Kein Wunder also, dass der Herausgeber der „Salzburger Nachrichten“, Gustav Canaval, zu grübeln begann: „Warum Bert Brecht, der zum verspäteten Landsturm des kommunistischen Avantgardistentums gehört, heute ausgerechnet auf Salzburg blickt, wohin er paßt, wie der Dieselmaschinist ins Oratorium, ist zunächst unerfindlich.“ In der „Neuen Front“ wiederum bezeichnete Viktor Reimann einen gewissen Eberhard Preußner, der schon lange auf seiner Abschussliste stand, als Drahtzieher hinter der Affäre Brecht, indem er schrieb: „Preußner war es auch, der Thomas Mann nach Salzburg brachte, jenen Edelkommunisten, der die deutsche Diktatur ablehnte, um desto mehr die russische zu preisen.“
Der Frage, „auf welchem Weg der Edelmarder in den Salzburger kulturellen Hühnerstall eingebrochen ist“ („Salzburger Nachrichten“), widmete sich am 21. November 1951 auch der Salzburger Landtag in einer mehrstündigen Debatte. In deren Verlauf zog der Abgeordnete des „Verbandes der Unabhängigen“ (VdU), der Vorgängerorganisation der FPÖ, Friedrich Freyborn, über Brecht her und erinnerte an dessen „großartige Liste von dekadenten, kulturschänderischen Veröffentlichungen“. Landeshauptmann Klaus zog sich während der Sitzung insofern aus der Affäre, als er Gottfried von Einem zum Alleinverantwortlichen machte und die Sache für beendet erklärte, da von Einem wegen seines Einsatzes für Brecht ohnehin bereits am 31. Oktober 1951 aus dem Direktorium der Festspiele entfernt worden war.
Bei dieser Kuratoriumssitzung hatte der Landeshauptmann seinen Kontrahenten von Einem frontal angegriffen und ihn als „Schande für Österreich“ sowie als „Lügner“ bezeichnet und dessen sofortige Entlassung gefordert. Gottfried von Einem erzählte über diese Sitzung: „Da hatte ich endgültig die Nase voll und sagte zu Josef Klaus, dass er sich im klaren darüber sein soll, dass Hitler bereits tot sei. Daraufhin sprang er, wie von einer Tarantel gestochen, auf, warf seinen Sessel um und schrie: ‚Entweder verlassen Sie den Saal oder ich.‘ Daraufhin sagte ich: ‚Aus Ihrer Gegenwart gehe ich immer wieder gerne fort.‘ Und bin gegangen.“ Offiziell wurde Gottfried von Einem wegen „unqualifizierten Benehmens“ seiner Funktion als Direktoriumsmitglied enthoben und die Medien hatten neben dem „Fall Brecht“ nun auch den „Fall von Einem“.
Von Einems Rausschmiss aus dem Direktorium erfolgte übrigens einstimmig, obwohl ihm der Präsident der Festspiele, Heinrich Puthon, noch vor der Sitzung versichert hatte, dass er selbstverständlich Mitglied des Direktoriums bleiben werde.
Als Wiedergutmachung wurde Gottfried von Einem nach dem Tod Wilhelm Furtwänglers 1954 Präsident des Kunstrates der Festspiele. In dieser Funktion war es zwischen ihm und Josef Klaus ein Jahr später zu einer weiteren Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf sich der Landeshauptmann vehement „gegen die Verjudung der Festspiele“ ausgesprochen hatte. Der Grund: Gottfried von Einem hatte das Juilliard-Quartett nach Salzburg eingeladen, woraufhin sich Josef Klaus darüber beklagte, dass die Einladung nur erfolgt sei, weil es sich bei den vier Herren um Juden handelte. Gottfried von Einem antwortete, dass es sich beim Juilliard-Quartett um eines der besten Quartette der Welt handle. Darauf Josef Klaus: „Trotzdem, die Verjudung der Festspiele, die gibt‘s bei mir nicht.“ Von 1964 bis 1970 war Josef Klaus dann Bundeskanzler der Republik Österreich und trat im Wahlkampf 1970 als „echter Österreicher“ gegen Bruno Kreisky an, der als Emigrant und Jude dieses Attribut wohl nicht verdiente.
Mit dem Rausschmiss von Einems aus dem Festspieldirektorium galt der „größte Kulturskandal der Zweiten Republik“ nach außen hin zwar als beendet, für das österreichische Theater sollte er aber noch fatale Auswirkungen haben. Dieses „abscheuliche Manöver Brechts“, wie der Kritiker Hans Weigel die Bemühungen des staatenlosen Emigranten Brecht um die österreichische Staatsbürgerschaft bezeichnete, bildete nämlich den Auftakt zu einem tatsächlichen Skandal: Den Brecht-Boykott in Österreich.
Zwischen 1950 und 1963 wagte es kaum ein österreichisches Theater, ein Stück von Brecht auf den Spielplan zu setzen. Und versuchte es eine Bühne trotzdem, wie beispielsweise das Salzburger Landestheater im Oktober 1960 mit dem „Guten Menschen von Sezuan“, dann hagelte es sofort Kritik. So schrieb Hans Weigel: „Bert Brecht war einverstanden mit der Liquidierung des Juni-Freiheitskampfes in der Sowjetzone Deutschlands, Bert Brecht war von Josef Stalin begeistert. Das Salzburger Landestheater spielt Brecht. Da sich das Salzburger Landestheater zu Brecht bekennt, macht es Propaganda für den Kreml.“
Neben Hans Weigel war der bereits erwähnte Friedrich Torberg der vehementeste Verfechter des Brecht-Boykotts in Österreich. 1961 bekannte Torberg offen:
„In dieser Theaterstadt Wien ist seit dem 17. Juni 1953 kein Stück von Bertolt Brecht mehr aufgeführt worden, und ich will Ihnen gleich eingangs bekennen, daß das nicht ganz ohne mein Zutun geschehen ist. Ich habe als Theaterkritiker, als Herausgeber einer kulturpolitischen Zeitschrift und auf jeder anderen mir zugänglichen Plattform nach besten Kräften darauf hingewirkt, daß Brecht in Wien nicht gespielt wird. Ich bin dafür mitverantwortlich, oder, wie einige von Ihnen es vielleicht lieber formuliert hören würden: Ich bin daran mitschuldig.“
Mit der von Torberg erwähnten kulturpolitischen Zeitschrift war das FORVM gemeint, das viele Jahre von der CIA finanziell unterstützt wurde
Als der Brecht-Boykott längst Geschichte war, wollte sich Torberg in bester österreichischer Manier natürlich an nichts mehr erinnern. Aus Anlass von Brechts 75. Geburtstag schrieb er in der „Arbeiter-Zeitung“:
„Auf die Gefahr hin, all denen, die mich mit dem schäbigen Etikett des Brecht-Boykottierers versehen haben, eine Enttäuschung zu bereiten: Ich hin nicht gegen Brecht und ich war es nie.“
Eine besonders üble Rolle im Zusammenhang mit dem Brecht-Boykott spielte auch ein gewisser Günter Nenning, dessen Wandlung vom Auhirschen zu Hans Dichands Schoßhündchen symptomatisch für die Biographie dieses Opportunisten par excellence war. Nenning stieß Ende der fünfziger Jahre zu Friedrich Torbergs FORVM und schaltete sich sogleich in die Brecht-Diskussion ein. 1958 veröffentlichte er einen Grundsatztext zu diesem Thema, in dem es hieß:
„Daß Brecht in Österreich nicht gespielt werden soll ist ein Standpunkt, der eingehende Diskussion verdient: Diskussion unter uns – das heißt unter den rabiaten Antikommunisten und rabiaten Demokraten. Die Teilnahme von Kommunisten ist unerwünscht. Die Kommunisten mögen schweigen. Sie haben von der Demokratie keinerlei Freiheiten zu fordern, nicht einmal die ihrer nackten politischen Existenz – welche ihnen die Demokratie aus Prinzip und Nützlichkeit dennoch gewährt.“
Nennings Position unterschied sich von der primitiven Anti-Brecht-Linie eines Friedrich Torberg oder Hans Weigel insofern, als er durchaus für die Aufführung von Brecht-Stücken war, allerdings nur, wenn es der Regie gelänge, „die antikommunistische Moral herauszuholen.“
Wenige Jahre später hielt sich Burgtheaterdirektor Ernst Haeusserman an dieses Konzept, indem er vor der Aufführung von Brechts „Galilei“ das Anti-Brecht-Stück „Die Plebejer proben den Aufstand“ von Günter Grass auf den Spielplan setzte. Nachdem sich das Publikum also davon überzeugen konnte, welches Schwein Brecht in Wirklichkeit war, durfte es sich an Curd Jürgens‘ garantiert kulinarischer Darstellung des Galilei erfreuen.
Zum Schluss eine zum Thema passende Anekdote, die in dem Buch „Geschichten vom Herrn B.“ nachzulesen ist:
„Nach seiner Rückkehr aus der Emigration hatte Herr B. die Staatsangehörigkeit des Bruderlandes Österreich angenommen. Er gab sie auch nicht auf, als er in den neuen deutschen Staat übersiedelte.
Befragt, warum er seine Staatsangehörigkeit nicht wechsle, antwortete Herr B.: ‚Weil ich den Staat, in dem ich jetzt wohne, lobenswert finde und unterstützen will. Es widerstrebt mir, einen Staat zu loben und zu unterstützen, dessen Bürger ich bin. In Österreich aber Neuerungen einführen zu wollen, lohnt sich bekanntlich nicht.“
Erschienen im Katalog zur Landesausstellung „Bürger, Kaiser, Jedermann“ in Salzburg, April 2016
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