Im Jänner und Februar 1913 hielt sich Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, besser bekannt unter dem Namen Stalin, in Meidling auf, um hier das bahnbrechende Werk „Marxismus und nationale Frage“ zu schreiben.
Auf Vermittlung Lenins kam Stalin beim Emigrantenehepaar Alexander und Jelena Trojanowski unter, das mit seiner kleinen Tochter Galina und der Haushälterin Olga Weiland in der Schönbrunner Schloßstraße 30, auf Tür Nummer 7, lebte. Hier verfasste der „prächtige Georgier“, wie er von Lenin genannt wurde, aber nicht nur diesen Grundsatztext zur russischen Revolution, hier traf er auch zum ersten Mal mit Leo Trotzki zusammen. Gäbe es den Ausdruck „Hass auf den ersten Blick“, dann würde ßer wohl auf diese Begegnung zutreffen. Während Trotzki von Stalins „vor Bosheit funkelnden gelben Augen“ abgeschreckt war, sah Stalin in Trotzki in erster Linie einen „Marktschreier“.
Auch Stalins erste Begegnung mit Nikolaj Bucharin, dem langjährigen Chefredakteur der „Prawda“, fand in dieser Wohnung statt. Wie Trotzki wurde auch Bucharin Jahre später ein Opfer von Stalins Säuberungspolitik.
Nachdem bei den Bolschewiki Unklarheit darüber herrschte, wie man das Nationalitätenproblem in Russland lösen solle, wurde Stalin nach Wien geschickt, um aus den Fehlern der Habsburger die richtigen Schlüsse für die Vorbereitung der Revolution in Russland zu ziehen. Stalins Text, den Lenin als „ganz hervorragend“ bezeichnete, spielte dann ja auch tatsächlich eine entscheidende Rolle bei der Lösung der Nationalitätenfrage nach der Oktoberrevolution 1917.
Mit Fug und Recht kann man also behaupten, dass Stalins Aufenthalt in Meidling von eminenter historischer Bedeutung war. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb in der Schönbrunner Schloßstraße 30 immer noch eine Gedenktafel an Stalin erinnert. Es ist eine imposante Marmortafel mit Bronzerelief, die im Dezember 1949 aus Anlass von Stalins 70. Geburtstag vom damaligen Wiener Bürgermeister Theodor Körner feierlich enthüllt wurde. In Artikel 19 des Staatsvertrags hat sich Österreich übrigens verpflichtet, Denkmäler der Alliierten zu schützen und zu pflegen, weshalb eine Entfernung dieser Tafel – wie sie zum Beispiel ÖVP und FPÖ fordern – eine klare Verletzung des Staatsvertrags wäre.
Als führendes Mitgliedª der Bolschewiki wurde Stalin in Russland insgesamt acht Mal verhaftet und in die Verbannung geschickt. Mit gefälschten Papieren gelang ihm aber immer wieder die Flucht. In der Illegalität nannte sich Stalin Koba Iwanowitsch, K. Kato, Zakhar Gregorian Melikyants, Gaioz Nizharadze oder Stavros Papadopoulos. In Wien benutzte er das Pseudonym Stavros Papadopoulos.
Abseits der politischen Bedeutung von Stalins Aufenthalt in Meidling stellt sich die Frage, wie sein Alltag damals ausgesehen haben könnte. Stalin wird ja nicht wochenlang in seinem Zimmer gesessen und an seinem Text geschrieben haben. Wir wissen zum Beispiel, dass Stalin für Galina oft Bonbons gekauft hat, die es im Schönbrunner Park an einem Stand gab. Von seiner Unterkunft war es zwar nicht weit bis zu diesem Park, aber wenn Stalin gewollt hätte, hätte er bequem auch mit der Straßenbahn – z. B. mit den Linien 57, 59 oder 60 – dorthin fahren können.
Leider ist nicht bekannt, was es bei den Trojanowskis zum Mittagessen gab, aber nehmen wir einmal an, Stalin hätte Lust auf Meeresfisch gehabt, dann hätte er diesen in der Nordsee-Filiale bei der Stadtbahnstation Meidling-Hauptstraße bekommen. Hier hätte Stalin zwischen Seeaal, Heilbutt, Austernfisch, Knurrhahn oder Kabeljau wählen können. Und wenn er bereit gewesen wäre, für ein Dutzend amerikanischer Austern („blue points“) zwei Kronen zu bezahlen, hätte er diese dort ebenfalls bekommen. Um denselben Betrag hätte sich Stalin bei der „Wiener Großstädtischen Milch-Versorgungsunternehmungs-Gesellschaft“ in der Schönbrunnerstraße 187 übrigens mit 23 „garantiert frischen Eiern“ eindecken können.
Sehr beliebt waren damals auch Maggi-Suppenwürfel, von denen ein Stück zwölf Heller kostete. Die Würfel wurden in den Sorten Reis, Erbs mit Speck, Kartoffel und Julienne angeboten. „Verlangen Sie nicht einfach ‚Rindsuppenwürfel‘, sondern stets ausdrücklich Maggi‘s Rindsuppenwürfel, denn diese sind die Besten“, hieß es in der Werbung. Ob Stalin für Werbung dieser Art empfänglich war?
Sollte Stalin einmal Zahnschmerzen gehabt haben, so hätte er in der Meidlinger Hauptstraße Nr. 1 im Zeitraum von 8 – 18 Uhr (auch an Sonntagen!) die Dienste eines Zahnarztes zu folgenden Konditionen in Anspruch nehmen können: „Zähne zu 2 Kronen. Plomben zu 2 Kronen. Zahnziehen (schmerzlos) COCAIN 1 Krone. Tel. 1397.“
Olga Weiland soll sich einmal über Stalins mangelnde Körperhygiene beschwert haben. Das lässt darauf schließen, dass Stalin die beiden öffentlichen Bäder in Meidling, nämlich das Theresienbad in der Hufelandgasse 3 und das Pfannsche Mineralbad in der Niederhofgasse 14, wahrscheinlich eher nicht besucht hat.
Sehr wohl können wir aber davon ausgehen, dass Stalin das eine oder andere Mal ins Kino gegangen ist. Immerhin gab es 1913 bereits fünf Kinos in Meidling. Das „Füchslhofkino“; das „Meidlinger Biographen Theater“; das „Elektrotheater American Bioscop“; das „Wolfgang-Kino“ und das „Schönbrunner Kino-Theater in Weigl‘s Dreherpark“. Die Eintrittspreise betrugen zwischen 60 Heller und einer Krone, dafür waren alle Tische und Sitzplätze numeriert.
Gezeigt wurden Filme wie „Stärker als der Tod“ (Drama); „Der kleine kurzsichtige Fritz“ (Humoristische Szenen); „Das nimmer ruhende Wasser“ (Prächtige Naturszenerien); „Helfer der Menschheit“ (Lebensdrama in zwei Akten) oder „Zocken aus Liebe“ (Posse). Der letztgenannte Film lief im Schönbrunner Kino-Theater in Weigl‘s Dreherpark in der Schönbrunnerstraße 307. In diesem Vergnügungsetablissement gab es neben einem Kino auch Säle, in denen Konzerte, Ringkämpfe und Zirkusaufführungen stattfanden. Star in dem Film „Zocken aus Liebe“ war der berühmte französische Komiker Max Linder, den Charlie Chaplin als sein großes Vorbild bezeichnete.
Jahre später, als Stalin längst im Kreml residierte, ließ er sich dort einen eigenen Kinosaal einrichten, in dem er mit Vorliebe Filme mit Charlie Chaplin und „Tarzan“ Johnny Weissmüller sah. Stalin war auch ein großer Western-Fan, dass er aber John Wayne wegen dessen antikommunistischer Gesinnung ermorden lassen wollte, darf getrost ins Reich der Legenden verwiesen werden.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, mit welchem Geld Stalin seinen mehrwöchigen Aufenthalt in Wien finanziert hat. Nach seiner aus politischen Gründen erfolgten Entlassung aus dem Priesterseminar in Tiflis, war Stalin ja nur noch als Berufsrevolutionär tätig. In dieser Funktion war er übrigens federführend an den Geldbeschaffungsaktionen für die Bolschewiki beteiligt. Diese wurden vom „Ausschuss zur revolutionären Enteignung der Banken“ durchgeführt, was im Klartext nichts anderes hieß, als dass Banken ausgeraubt wurden. Nach dem spektakulären Überfall auf die Reichsbankfiliale in Tiflis am 26. Juni 1907, bei dem etwa vierzig Menschen ums Leben kamen, war damit allerdings Schluss. Lenin war der Meinung, dass „terroristische Aktionen“ dieser Art mit der Ideologie der Bolschewiki nicht vereinbar wären.
Stalins Lebensführung in Wien war aber sicher nicht so aufwändig, dass man dafür eine Bank hätte ausrauben müssen. Außerdem verfügte Alexander Trojanowski als Spross einer reichen Adelsfamilie über genügend Mittel, um Stalins Aufenthalt in Meidling finanzieren zu können. Lenin empfahl die Trojanowskis ja nicht nur, weil sie „gute Leute“ waren, sondern auch, weil sie „Geld hatten“.
Mitte Februar 1913 kehrte Stalin wieder nach Petersburg zurück, wo er während eines von den Bolschewiki veranstalteten Konzerts in der Kalaschnikow-Börse verhaftet und für vier Jahre in die Verbannung nach Sibirien geschickt wurde. Kurz nach seiner Verhaftung wurde die in Meidling verfasste Schrift „Marxismus und nationale Frage“ im theoretischen Organ der Bolschewiki, „Prosweschtschenije“ („Die Aufklärung“), abgedruckt. Es war das erste Mal, dass ein Text Stalins unter diesem Pseudonym erschien.
Der Standard, ALBUM, 27./28. August 2016
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